Ouvertüre zur Schauspielmusik «Manfred» op. 115

Robert Schumann  (1810-1856)


Programmheft für das 2. Abo-Konzert 2019/20

Schumanns Liebe zur Dichtung

Robert Schumanns Interesse an den Werken des englischen Dichters George Gordon Noel Lord Byron wurde, wie überhaupt seine Begeisterung für die Literatur, durch seinen Vater August Schumann geweckt. Der Buchhändler und Verleger betätigte sich mitunter auch als Übersetzer englischsprachiger Literatur und hatte die Werke «Childe Harold» und «Beppo» des populären Briten ins Deutsche übertragen. Wie viele seiner Zeitgenossen war Robert Schumann von den Schriften des ebenso genialen wie exzentrischen Autors beeindruckt. Byron verkörperte die düstere, schmerzvolle und unzufriedene Seite des romantischen Weltempfindens. Seine Helden sind – vielleicht als
Projektion seiner selbst – intelligent und leidenschaftlich, aber auch rastlos und einsam; ein zufriedenes, glückliches Leben scheint ihnen nicht beschieden.


Während seines Jurastudiums in Leipzig las Schumann zum ersten Mal «Manfred», ein dramatisches Gedicht in drei Akten, das Byron 1817 verfasst hatte. Im Sommer des Jahres 1848 nahm Schumann das Drama wieder zur Hand, das 1839 in einer neuen Übersetzung durch den Theologen Karl Adolf Suckow erschienen war. Er war von der Lektüre so gefesselt, dass er sofort mit einer Vertonung begann. «Robert hat sich das Gedicht nach seinen Gedanken arrangiert, um es für die Bühne wirksam zu machen», berichtete Clara Schumann. «Seine Ouvertüre, die bereits beendet ist, scheint mir eins der poetischsten und fast ergreifendsten Stücke Roberts.» In besagter Ouvertüre sind die beiden ausschlaggebenden Charakterzüge des Protagonisten Manfred musikalisch angelegt. Byron hatte in seinem kühn formulierten Drama autobiografische Ereignisse verarbeitet: Unter dem Druck der Öffentlichkeit gab er
die Beziehung zu seiner Halbschwester Augusta auf, die Widmungsträgerin mehrerer seiner Liebesgedichte war und mit der er wahrscheinlich ein Kind gezeugt hat. Die Ehe mit Annabella Milbanke, die seinen Ruf rehabilitieren sollte, scheiterte schon nach kurzer Zeit und die skandalumwitterte Trennung der beiden führte zu einem öffentlichen Eklat. Gesellschaftliche Isolation und finanzielle Schwierigkeiten veranlassten Byron, England 1816 für immer zu verlassen. Diese Erfahrungen, verbunden mit den Eindrücken einer Alpenreise im gleichen Jahr, fanden ihren Niederschlag in seinem dramatischen Gedicht. Obwohl es an keiner Stelle ausdrücklich gesagt wird, scheint es eindeutig, dass die im Stück beschriebene tragische Liebe Manfreds zu Astarte ebenfalls eine zwischen Geschwistern ist.
Astarte flüchtet in den Freitod und lässt Manfred schuldbeladen und verzweifelt zurück. Er isoliert sich von seiner Umgebung und lehnt jegliche angebotene Hilfe ab. Sein trotziges Sich-Aufbäumen gegen das Schicksal wechselt mit Phasen tragischer Resignation. Diese beiden gegensätzlichen Gemütsverfassungen setzte Schumann musikalisch in seiner von auffallend schroffen Kontrasten geprägten Ouvertüre um.

 

Erst im Oktober 1851 zeichnete sich eine Aufführung des Opus 115 ab.Schumann schrieb aus Düsseldorf an Franz Liszt: «Wir haben gestern die Ouvertüre zu Manfred probirt; meine alte Liebe zur Dichtung ist dadurch wieder wach geworden. Wie schön, wenn wir das gewaltige Zeugniß höchster Dichterkraft den Menschen vorführen könnten! Sie gaben mir Hoffnung dazu; haben Sie einmal wieder darüber nachgedacht? ... Das Ganze müsste man dem Publikum nicht als Oper oder Singspiel oder Melodram, sondern als ‹dramatisches Gedicht mit Musik› ankündigen. – Es wäre etwas ganz Neues und Unerhörtes.» Am 14. März 1852 wurde zunächst nur die Ouvertüre im Gewandhaus zu Leipzig uraufgeführt. Liszt befand sich im Publikum und übernahm am 13. Juni schliesslich die musikalische Leitung der Erstaufführung des gesamten Opus 115 am Weimarer Hoftheater. In der Folgezeit gab es noch einige szenische Aufführungen, doch die konzertanten Präsentationen von «Manfred» überwogen. Einen festen Platz im Konzertrepertoire konnte sich letztlich nur die Ouvertüre zum dramatischen Gedicht sichern.

Text: Cornelia Thierbach