Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893)
Programmheft für das 2. Abo-Konzert 2019/20
Zärtlichkeit und Liebessehnen
Zum Zeitpunkt, als Peter Tschaikowsky die russischen Musikszene betrat, war sie in zwei Lager gespalten. Zum einen
gab es die einflussreiche Russische Musikgesellschaft um ihren Initiator Anton Rubinstein, die sowohl das Moskauer als auch das Petersburger Konservatorium begründet hatte. Die
Pädagogen und dementsprechend auch ihre Studenten strebten den Anschluss der russischen Musik an die europäische an; ihnen lag an einer Fortführung der klassisch-westeuropäischen Musiktradition. Eine andere Sichtweise nahm eine Gruppe von
Komponisten ein, die unter dem Namen Mächtiges Häuflein Berühmtheit erlangte. Zu ihr zählten Milij Alexejewitsch Balakirew, Alexander Borodin, Modest Mussorgsky und anfänglich auch Nikolaj Rimski-Korsakow. Dem Mächtigen Häuflein schwebte eine von konventionell-europäischen und kosmopolitischen Einflüssen freie, nationale Musik vor, die sich im besonderen Masse auf die slawische Folklore und das Volkslied stützen sollte. Die Zukunft der Musik sahen jene Komponisten vor allem in der symphonischen Programmmusik
und in der Oper, die in erster Linie nationale Stoffe behandeln sollte. Balakirew hatte bereits 1862 in St. Petersburg die Musikalische Freischule gegründet, die eine unakademische
und kostenfreie Ausbildung anbot. Denn das Mächtige Häuflein lehnte auch das traditionelle Kompositionsstudium ab, da nicht die Ausbildung zähle, sondern nur das «reine, durch keine
Regeln gefesselte Genie».
Als Tschaikowsky 1866 seine Dozentur am Moskauer Konservatorium antrat, vermied er es, eine eindeutige Position
für eine der Parteien zu beziehen. Im März 1868 traf er sich das erste Mal mit den Mitgliedern des Mächtigen Häufleins, die ihm, dem Zögling des geächteten Konservatoriums, mit Misstrauen
begegneten. Doch Rimski-Korsakow erkannte in ihm einen «liebenswürdigen und sympathischen Menschen» und alle
Anwesenden zeigten sich von seiner am Klavier skizzierten 1. Symphonie begeistert. Tschaikowsky wiederum war fasziniert von Balakirew, mit dem er in einen intensiven, von musikästhetischen Diskussionen geprägten Briefwechsel trat. Balakirew war es auch, der Tschaikowsky zu der Fantasie-Ouvertüre «Romeo und Julia» anregte. Tschaikowskys Erstling, die heute kaum mehr bekannte symphonische Fantasie «Fatum», hatte die Aufmerksamkeit Balakirews erregt. Er ermutigte daraufhin Tschaikowsky zu weiteren symphonischen Tondichtungen und empfahl ihm erstaunlicherweise keine russische Vorlage, sondern William Shakespeares Theaterstücke «Der Sturm» sowie «Romeo und Julia».
Der Vertonung des Liebesdramas widmete sich Tschaikowsky als erstes. Balakirew nahm an der Komposition der Ouvertüre regen Anteil. Er hatte eine klare Konzeption für den Inhalt des Werkes und sparte weder mit Kritik noch mit Ratschlägen, wenn Tschaikowsky ihm Themen und Skizzen zuschickte. Tschaikowsky verlegte sich nicht darauf, den Handlungsablauf der Shakespeare-Tragödie musikalisch im Detail zu illustrieren, sondern er konzentrierte den Ausdrucksgestus der Musik auf die Kernpunkte des Ganzen, auf die Liebe zwischen Romeo und Julia, den Streit der beiden Adelshäuser und die Güte des helfenden Paters Lorenzo. Dem entsprechen die drei Themenkomplexe der Ouvertüre: die schwärmerische, innige Kantilene, das drohende, rhythmisch pointierte und in seiner zügigen Bewegung unerbittliche Hauptthema der Todfeindschaft und der an russische Kirchenmusik erinnernde Choral, mit dem das Stück beginnt.
Im November 1869 vollendete Tschaikowsky sein Meisterwerk und Balakirew, dem es gewidmet ist, urteilte: «Es ist einfach faszinierend. Ich spiele es mir oft durch und müsste ihnen eigentlich dazu gratulieren. In ihm liegt Zärtlichkeit und Liebessehnen.» Die Uraufführung im März 1870 unter der Leitung von Nikolai Rubinstein brachte noch nicht den erwünschten Erfolg. Doch im Jahr darauf wurde die Ouvertüre auf Vermittlung von Karl Klindworth in Berlin aufgeführt, wo sie anschliessend im Druck erschien. Romeo und Julia war das erste Werk Tschaikowskys, das im Ausland erklang und den Namen des jungen russischen Komponisten bekannt machte.
Text: Cornelia Thierbach