Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893)
Text von Sibylle Ehrismann – 2. Abo-Konzert Saison 2016/17
Peter I. Tschaikowsky:
Symphonie Nr. 4 f-Moll op. 36
AUS DEM DUNKEL ZUM
FLAMMENHAFT LODERNDEN LICHT
Für Peter I. Tschaikowsky war die im
19. Jahrhundert in ganz Europa spürbare
Rückbesinnung auf die nationale Volksmusik
schwierig. Hatten die Polen ihren
Chopin, so war Tschaikowsky zu sehr
westlich orientiert, um als besonders
«russischer» Komponist gefeiert zu
werden. Deshalb wurden die jüngeren
Russen um Milij Balakirew, Modest
Mussorgsky und Rimski-Korsakow
seine Gegner. Sie, auch das «Mächtige
Häuflein» genannt, wollten sich vom
Westen abwenden und eine typisch
russische Musik kreieren.
Vorerst waren es hauptsächlich Tschaikowsyks
Ballettmusiken wie «Der Schwanensee
» oder «Der Nussknacker», die ihn
weltbekannt machten. Seine Symphonien,
in denen er sich auf folkloristische
Rhythmen und Melodien eingelassen
hatte, wurden vorerst kaum ausserhalb
Russlands wahrgenommen. Nicht
umsonst hat die 2. Symphonie c-Moll den
Untertitel «Kleinrussische», da Tschaikowsky
in ihr konsequent ukrainische
Volkslieder verwendet hat.
Erst mit seiner 4. Symphonie f-Moll
eroberte der Ballett-König auch mit einer
Symphonie ganz Europa. Diese ist klassisch
in vier Sätzen gehalten, und die
pathetischen Bläser-Fanfaren, die sie
eröffnen, lodern wie stechende Flammen
empor. Die Tonart f-Moll hingegen
verweist auf einen eher klagenden, trauernden
Charakter der Musik.
Entstanden ist dieses Meisterwerk denn
auch in einer für den Komponisten
schwierigen Zeit. Das Jahr 1877 brachte
die überstürzte Heirat mit seiner Schülerin
Antonina Miljukowa, die alsbaldige
Trennung und einen Selbstmordversuch
Tschaikowskys, als er erkennen musste,
dass seine homosexuelle Veranlagung
unabänderlich ist. «Mein Leben ist
verzweifeltermassen leer, dunkel und
banal», schrieb er am Vorabend seines
37. Geburtstags.
1877 lernte Tschaikowsky aber auch
seine Gönnerin Nadjeschda von Meck
kennen. Sie wurde nicht nur eine hingebungsvolle
Bewunderin des Komponisten,
sondern auch sein Schutzengel. Diese
langjährige Beziehung ist jedoch nur in
einem ausführlichen und innigen Briefwechsel
dokumentiert, denn tatsächlich
getroffen haben sich die beiden nie. So
war es denn auch Frau von Meck, welcher
Tschaikowsky seine 4. Symphonie
widmete mit den Worten «Meiner besten
Freundin». Und wie es damals Mode war,
fragte Frau von Meck den Komponisten
nach dem Programm der Symphonie.
Tschaikowsky legte ihr dieses mit
einigen Vorbehalten in einem Brief dar.
Demnach liegt die Keimzelle der ganzen
Symphonie im Einleitungsthema, welches
das Schicksal verkörpere, ein drohendes
Damoklesschwert, das man annehmen
oder vergeblich bekämpfen könne.
Dieser vergebliche Kampf offenbart sich
in der fallenden Melodie nach der aufflammenden
Einleitung des ersten Satzes –
der Kopfsatz dauert insgesamt doppelt so
lange wie alle anderen Sätze. Mit zunehmender
Verzweiflung, die bei Tschaikowsky
glühende Intensität erreicht,
kann der Mensch Zuflucht in Tagträumen
suchen, wie sie die Klarinettenmelodie
des zweiten Themas darstellt, gefolgt vom
strahlenden Bild der Freude. Realität und
Schicksal greifen ein und zerstören die
Illusion.
Laut Tschaikowsky zeigt der zweite Satz
die traurige Müdigkeit eines Abends, an
dem man sich an vergangenes Glück
und an vergangene Schwierigkeiten
erinnert, was die bittersüsse Melodie der
Oboe darstellen soll. Und die gezupften
Streicher im Scherzo entsprechen vorbeifliegenden
Bildern von betrunkenen
Bauern, einem Gassenhauer und einer
vorbeiziehenden Gruppe von Soldaten.
Dann plötzlich, völlig überraschend, setzt
mit einem Allegro con fuoco wuchtig
das Finale ein: mit Paukenschlag und
lodernd emporflammenden Streichern,
die die versöhnlichen Holzbläsermelodien
bedrohen. Brillanter kann man
ein con fuoco wohl kaum komponieren.
Schlussendlich gibt der letzte Satz, der
ein Volksfest darstellt, eine Antwort auf
die Depression durch die Freude an der
Gemeinschaft mit anderen. Auch für
Tschaikowskys 4. Symphonie f-Moll kann
man durchaus das Sinnbild «Per aspera
ad astra» anwenden: sie führt musikalisch
aus dem Dunkel zum flammenhaft
lodernden Licht.