Sinfonie Nr. 7 d-Moll "Schweizerische"

Hans Huber  (1852-1921)


Text von Walter Labhart - 5. Abo-Konzert Saison 2016/17

Hans Huber: Symphonie Nr. 7 d-Moll «Schweizerische»

SYMPHONISCH VEREDELTE VOLKSLIEDER

Am 28. Juni 1852 als Sohn eines Lehrers und Chordirigenten im Weiler Eppenberg zwischen Aarau und Schönenwerd geboren, besuchte Hans Huber in der Kantonshauptstadt Solothurn die Schule. Nach dem Gymnasium wandte sich der pianistisch ausgebildete Student ganz der Musik zu. Im Programmheft zum
1. Schweizerischen Tonkünstlerfest 1900 in Basel hielt er zum Klavierunterricht und seiner weiteren Ausbildung fest: «Aus meinem wilden und zügellosen Dilettantismus (gleichzeitig Schwärmerei für die damals neu erschienenen Paganini-Variationen von Brahms und Tannhäusermarsch von Wagner-Liszt) riss mich endlich Carl Munzinger mit energischer Hand und pädagogischem Verständnis los und zeigte mir die guten Mittel und Wege zur ‹wahren Kunst des Klavierspiels› und der Theorie. Damit ausgerüstet reiste ich im Kriegsjahr 1870 ans Konservatorium nach Leipzig, wo ich vier Jahre namentlich bei Prof. Reinecke und den Lehrern Wenzel und Dr. Paul in den verschiedenen Kunstzweigen arbeitete.»
Am stärksten profitierte der junge Komponist vom weiten Bildungshorizont Carl Reineckes, des 1910 gestorbenen Zeitgenossen von Chopin, Schumann, Mendelssohn Bartholdy und Liszt. Ihm verdankte er seine Liebe zur Musik Mendelssohns, die er später seinen Schülern als Muster empfehlen sollte. Grösseren Einfluss übten jedoch die Vorbilder Schumann und Brahms aus.
An den Kampf der von Liszt unterstützten Wagnerianer gegen die von Eduard Hanslick angeführten Brahmsianer erinnerte sich Huber im oben erwähnten Programmheft: «Eng befreundet mit ausgezeichneten Männern wie Dr. Hugo Riemann, Otto Klauwell und anderen, stand ich mitten im tobenden Kampf der Neudeutschen contra Klassiker. Wir alle wurden in dem Circulum Wien, Bayreuth, Weimar und Leipzig tüchtig herumgeworfen.»
Bis er sich 1874 stellenlos in Basel niederliess, erteilte Huber in Wesserling (Elsass) Töchtern von Industriellen privaten Klavierunterricht, wobei er «in herrlicher Natur und bei distinguierten Menschen nach Herzenslust arbeiten konnte.» Dank der Popularität, die er 1892 mit der Festspielmusik zur 400-Jahr-Feier der Verei- nigung von Klein- und Grossbasel erreicht hatte, wurde er ein Jahr später als Klavierlehrer an der Allgemeinen Musikschule angestellt. In jener Zeit regte er nach dem Vorbild des Allgemeinen Deutschen Musikvereins zusammen mit dem Komponisten Friedrich Hegar die Gründung des Schweizerischen Tonkünstlervereins (STV) auf das Jahr 1900 an.
Schon 1896 zum Direktor der Musikschule ernannt, leitete Huber von 1899 bis 1902 den Basler Gesangverein. Dem Konservatorium, das er 1905 gegründet und an die Allgemeine Musikschule angeschlossen hatte, stand er bis 1918 als Direktor vor. Die letzten Lebensjahre verbrachte er in Vitznau und in Minusio bei Locarno, wo er nach einer Lungenentzündung am 25. Dezember 1921 starb. Der schon 1892 mit dem Ehrendoktortitel der Universität ausgezeichnete Musiker legte als Pädagoge grossen Wert auf gründliche Ausbildung. Zu Meisterkursen lud er daher den Pianisten und Kompo- nisten Ferruccio Busoni ein, der von 1915 bis 1917 im Zürcher Exil lebte.
Nebst Richard Flury, Ernst Levy und Rudolf Moser bildete Hans Huber auch Marguerite Alioth und den späteren Busoni-Schüler Luc Balmer kompositorisch aus. Werner Wehrli, der Autor des vom argovia philhar- monic ersteingespielten Orchesterstücks «Chilbizite», liess sich als junger Komponist in Basel sowohl von Huber als auch von Hermann Suter beraten.
1915 erschien der Vortrag «Unser Schweizer Standpunkt» von Carl Spitteler, den der Dichter in der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Zürich gehalten hatte. Auf den Krieg zwischen Deutschland und Frankreich reagierte der spätere Nobelpreisträger für Literatur mit dem Aufruf zur Neutralität. Um Einflüsse aus Deutschland fernzuhalten und eine spezifisch schweizerische Kunstmusik zu erzeugen, bemühten sich etliche Komponisten mit Dialektliedern.
In der «Schweizerischen National-Ausgabe» des Verlages Hug in Zürich erschienen seit dem Kriegsende nebst Sinfonien von Fritz Brun das von schweizerischen Volksliedern inspirierte Sextett B-Dur o. op. für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Fagott und Klavier von Hans Huber und die vom argovia philharmonic interpretierte Sinfonie d-Moll von Hermann Suter.
Unter den 136 Kompositionen mit Opuszahlen und weiteren Werken von Huber, der von Max Reger, Richard Strauss und weiteren Berühmtheiten geschätzt wurde, ragen nebst fünf Opern, acht Sinfonien und elf Violinsonaten mehrere Instrumentalkonzerte und Oratorien hervor.
Einen kulturellen Schweizer Standpunkt vertrat Huber lange vor Spitteler. Sein sinfonisches Schaffen hatte er schon mit der 1881 in Basel selber uraufgeführten «Tellsinfonie» d-Moll op. 63 begonnen. Ihr folgte mit der «Böcklinsinfonie» e-Moll op. 115 eine ebenfalls programmatische, diesmal von Werken des Schweizer Malers Arnold Böcklin angeregte Komposition.
Die Anfänge der 7. Sinfonie mit dem Beinamen «Schweizerische» gehen in das Jahr 1913 zurück. Dem befreundeten Textdichter Gian Bundi schrieb er damals, er skizziere «eine Bauernsymphonie mit Berginhalt und Bergtragik». Drei Jahre später informierte er Bundi über die Gestalt des Werkes: «Der Inhalt der Symphonie stellt sich ungefähr folgendermassen dar: 1. Satz: Auf und in den Bergen. Ernst und bewegt. Stille und Sturm. 2. Satz: Hochzeitszug in die Kirche und ins Dorf. 3. Satz: Adagio. Sopran oder Altsolo mit folgendem Text:
Durch die Blätter blinzelt golden Sonnenschein aus blanker Bläue. Kelche öffnen sich und Dolden Zittern, suchende und scheue Blicke, tränenfeucht von Sorgen Fragend in den frühen Morgen.
Sonne küsst die kleinste Blüte, Küsst die Knospen an den Zweigen, Ist so reich an Glanz und Güte, Dass die Tränen sternwärts steigen, Die aus bang durchweinten Tagen Von dem Sieg der Sonne sagen.
4. Satz: Feste – und hier sollte ich am Schluss von den Festen zum vaterlän- dischen Ernste zurückkehren mit einem mächtigen Männer- oder Gemischten Chore (mit Benützung des Sopransolos ev. Alt). Finden Sie mir da einen Dithyrambus?»
Anstelle eines solchen sandte Bundi seine deutsche Übertragung des romanischen Gedichtes «Nossa patria» von Zaccaria Pallioppi. Da er schliesslich von einer Vokalsinfonie absah, liess Huber diesen Text weg.
Die mit sechs Hörnern, drei Pauken und Glockenspiel gross besetzte Sinfonie beginnt im ersten Satz «Auf den Bergen» fortissimo mit einer kraftvoll angespannten Adagio-Einleitung. Schon in den ersten vier Takten zeichnet sich in den Trompeten der Anfang des Hauptthemas in d-Moll ab. In seiner vollständigen Gestalt erscheint es erst im folgenden Allegro con fuoco-Abschnitt.
Es entspricht jenem Appenzeller Ranz
des vaches (Kuhreigen) von 1710, der in der Kunstmusik erstmals in Schuberts Lieblingsoper auftauchte, in der 1809 in Wien uraufgeführten «Schweizer Familie» von Joseph Weigl. 1842 verwendete
Liszt dasselbe Thema im «Album d'un voyageur», um es überarbeitet 1855 als Nr. 8 «Le mal de pays/Heimweh» in die «Années de pèlerinage. Première Année - Suisse» aufzunehmen. Das dort in e-Moll notierte Stück leitet sein Thema vom oben erwähnten Kuhreigen ab und stellt eine typische Alphornmelodie dar.
Ein lyrisches zweites Thema trägt die Oboe vor. In vereinfachter Form eröffnet es den bewegteren Schlussteil. Im «Tempo eines Trauermarsches» kehrt das ebenfalls abgewandelte Hauptthema wieder.
Zum Allegro-Schluss des Kopfsatzes bildet der Im gemütlichen Marsch- tempo beginnende «Ländliche Hochzeitszug» einen umso schärferen Kontrast, als er einen heiteren Charakter trägt.
Sein leichtfüssiges Thema leitete Huber vom heute noch beliebten Volkslied «Vo Luzern uf Weggis zue» ab. Den besinnlichen Mittelteil bildet ein Adagio religioso mit einem zart-expressiven Violinsolo.
In seiner Fortsetzung nimmt der Hoch- zeitszug mitunter eine Mahlersche Färbung an.
Im an dritter Stelle folgenden langsamen Satz tragen Chromatismen wesentlich zum hohen Stimmungsgehalt der naturlauthaften, mit der Imitation von Vogelstimmen angereicherten Musik bei. Ein vom Englischhorn eingeführtes kantables Thema entstammt der fünften der schon 1903 veröffentlichten «Lyrischen Etüden». Dort erscheint es pianissimo «wie ferner Gesang», der sich über den unruhig pochenden Tonwiederholungen erhebt. Die «Nebelmorgen» betitelte Etüde nutzte der Komponist entgegen ihrem Titel zur Erzeugung einer atmosphärisch bezau- bernden Abendstimmung.
Dem abschliessenden vierten Satz stellte Huber als Motto ein Zitat aus dem «Wegelied» von Gottfried Keller voran:
«Drum weilet, wo im Feierkleide Ein rüstig Volk zum Feste geht
Und leis die feine Bannerseide Hoch über ihm zum Himmel weht!»
Das stark folkloristisch gefärbte Finale beginnt und endet mit einem fanfarenar- tigen Aufschwung der Hörner. Die beiden Themen in D-Dur erinnern an fröhliche Volkstänze. Kurze Holzbläsersoli eröffnen ein humorvolles Fugato. Kammermusi- kalische Transparenz wechselt mit vielstimmig-undurchdringlichem Tuttiklang ab. Wie schon im Kopfsatz erreichte Huber auch hier die Brillanz eines ebenso einfallsreichen wie erfahrenen Instrumentators grossen Formats.
Die von Hermann Suter geleitete Uraufführung fand im Rahmen des 18. Festes des STV am 9. Juni 1917 in Basel statt und überstrahlte alle übrigen Konzerte.