«The Sea» Suite für Orchester H. 100

Frank Bridge  (1879-1941)


Text von Anna Spiess, geschrieben für das Programmheft des 5. Abo-Konzerts "Best of Bostock", Saison 2018/19.

Huldigung an das Meer 

Wie viele seiner Zeitgenossen war auch Frank Bridge (1879 – 1941) im ausgehenden 19. Jahrhundert auf der Suche nach einer eigenen Tonsprache, wobei er sich in seiner ersten Schaffensphase noch stark an seinem Kompositionslehrer Charles V. Stanford sowie kontinentalen Künstlern wie Richard Strauss und Johannes Brahms orientierte. Bridges Gesamtwerk ist nicht sehr umfangreich, weshalb viele seinen Namen lediglich mit den «Variationen über ein Thema von Frank Bridge» op. 10 seines Kompositionsschülers Benjamin Britten in Verbindung bringen. Der gelernte Lithograph war neben seiner Tätigkeit als Komponist und Dirigent jedoch auch ein herausragender und angesehener Bratschist, der die Gelegenheit hatte, mit dem legendären Joachim-Quartett aufzutreten.

Bridges Tongedicht «The Sea» ist eines seiner Frühwerke aus dem Jahr 1911. Der aus der Küstenstadt Brighton stammende Komponist liess sich für die viersätzige Orchestersuite von der ihn umgebenden Natur inspirieren und brachte damit seine Liebe zum Meer zum Ausdruck. Das Meer als spektakuläre Naturgewalt sowie als Sehnsuchtsort begeisterte auch andere englische Komponisten wie Edward Elgar («Sea Pictures», 1899), Ralph Vaughan Williams («A Sea Symphony», 1910) oder Benjamin Britten («Four Sea Interludes», 1945). Bridges Inspirationsquelle dürfte aber in erster Linie Claude Debussys sechs Jahre älteres, impressionistisches Orchesterwerk «La Mer» gewesen sein, das zufälligerweise ebenfalls in Eastbourne, einer Küstenstadt an der Südküste Englands, fertiggestellt wurde. Wie Debussy versuchte auch Bridge nicht, das Meer onomatopoetisch zu beschreiben, sondern die damit verbundenen Gefühle und Erlebnisse musikalisch festzuhalten. Die Klangsprache von «The Sea» ist dabei noch deutlich in der Spätromantik zu verorten. Der Erste Weltkrieg hinterliess beim Pazifisten Bridge tiefe Spuren und auch die Rezession der 1920er Jahre setzte ihm zu, worauf er sich zunehmend modernen musikalischen Strömungen zuwendete.

Bridge beschrieb in den Programmnotizen zur Uraufführung, welches Bild er für die einzelnen Sätze vor Augen hatte. Zum ersten Satz «Seascape» (Meereslandschaft) notierte er: «Seascape malt das Meer an einem Sommermorgen. Von hohen Strömungen aus sieht man eine grosse Wasserfläche, die im Sonnenlicht liegt. Warme Brisen spielen über der Oberfläche.» Bruchstückhaft aufsteigende Streichermelodien schweben über einem warmen Klangteppich und vereinen sich zu immer wieder an- schwellenden, farbenfrohen Proklamationen, die tiefe Sehnsucht und Ehrfurcht vor der Natur ausdrücken. Virtuos und tänzerisch präsentiert sich das kurze, sprunghafte Scherzo mit dem Titel «Sea-foam» (Meeresschaum), das durch zahlreiche kleine Holzbläsersoli geprägt wird und das Tanzen des Meeresschaumes zwi- schen den Felsen zum Ausdruck bringt. Im dritten Satz «Moonlight» (Mondlicht) drücken silberne Mondstrahlen durch den bedeckten Himmel und rufen so eine mystische Stimmung über dem ruhigen Meer hervor. Dass es sich dabei lediglich um die Ruhe vor dem Sturm handelt,
wird insbesondere durch den darauffolgenden Satz «Storm» deutlich. Fanfarenartige Akkorde der Bläser peitschen bedrohlich über die stürmischen Wellen der Streicher hinweg. Die Sturmflut ebbt langsam ab und zum Schluss erklingt das schwungvolle Thema des ersten Satzes als finale Huldigung an das Meer.