Lied «Wenn ich mir in stiller Seele»

Fanny Hensel  (1805-1847)


Programmheft für das 2. Abo-Konzert 2019/20

Zu Ehren Goethes

Fanny Hensel gehört zu den produktivsten deutschen Komponistinnen des 19. Jahrhunderts. Ihr Werkverzeichnis umfasst etwa 150 Klavierstücke, Orgel- und Kammermusik, A-cappella-Chorwerke, Kantaten und eine Orchesterouvertüre. Die über 250 Lieder, die sie zeitlebens komponiert hat, bilden jedoch einen unübersehbaren Schwerpunkt in ihrem Schaffen. Beeinflusst von den Anschauungen der Berliner Liederschule sind ihre frühen Lieder dem Strophenideal verpflichtet. Gegen Ende der 1820er Jahre gewinnen sie eine individuelle Ausprägung: war in den frühen Vertonungen die Singstimme dominierend, das Klavier oft verdoppelnd eingesetzt, so wird in den späteren Liedern die Klavierbegleitung wesentlich differenzierter den Erfordernissen des jeweiligen Textes angepasst, auch unter Modifikation des Strophenprinzips. Mit der zunehmenden Differenzierung im Verhältnis von Musik und Text ging auch eine veränderte Auswahl der Texte einher. Viele der früheren Lieder basieren auf Gedichten aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, später vertonte die Komponistin bevorzugt Gedichte bedeutender Zeitgenossen wie Eichendorff, Lenau, Heine und vor allem Goethe.


Fanny Hensels Lieder offenbaren ihre grosse Begabung für die Melodieerfindung, sie zeichnen sich durch Originalität und Subtilität aus. Nicht ohne Grund befand ihr Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy, ihre Lieder seien «die schönsten, die jetzt ein Mensch auf der Erde machen kann. (...) Wahrhaftig, es giebt wenig Leute, die werth sind, die Lieder zu kennen.»


Die beiden im heutigen Konzert erklingenden Lieder komponierte Fanny Hensel auf Texte von Johann Wolfgang von Goethe. Im Sommer 1822 unternahm die Familie Mendelssohn Bartholdy eine dreimonatige Schweiz-Rundreise. Die Nähe zu Italien entfachte vor allem bei den Kindern den Wunsch, das Land, wo die Zitronen blühn kennenzulernen, doch die Eltern entschieden sich gegen einen Italien-Besuch. Fanny bedauerte zutiefst die Umkehr so kurz vor dem erträumten Land. Am Fusse des Gotthards bekannte sie: «Wäre ich an diesem Tage ein junger Bursche von 16 Jahren gewesen, bei Gott, ich hätte zu kämpfen gehabt, um keinen dummen Streich zu begehn.» Ihren Gefühlen liess sie in der Vertonung von Goethes Gedicht «Sehnsucht nach Italien freien Lauf.»


Auf dem Rückweg nach Berlin legten die Mendelssohns einen Halt in Weimar ein und besuchten Johann Wolfgang von Goethe. Lea, die stolze Mutter, berichtete in einem Brief vom 25. November an ihre Cousine Henriette von Pereira-Arnstein: «Daß Weimar der schöne Schlußstein war, der das Ende unserer Reise krönte, weißt Du wohl schon, liebe Jette! An Goethens und Schopenhauers machten wir unvergessliche, herrliche Bekanntschaften. Mit inniger Mutterfreude sah ich, dass Felix sich unter den vorzüglichen Menschen ungemein beliebt gemacht hatte und gern verdankten die glücklichen Eltern ihm die ausgezeichnete Güte mit der wir aufgenommen wurden. ... Auch gegen Fanny war er [Goethe] sehr gütig und herablassend; sie musste ihm viel Bach spielen, und seine, von ihr komponirten Lieder gefielen ihm außerordentlich, so wie es ihn überhaupt erfreut, sich in Musik gesetzt zu hören.» Vier Lieder hatte Fanny zu dieser Zeit auf Texte von Goethe komponiert und wohl zu diesem Anlass vorgetragen.


Über seinen Brieffreund Carl Friedrich Zelter, den Kompositionslehrer von Fanny und Felix, erhielt Goethe stets Nachrichten von der Familie Mendelssohn Bartholdy. Im Verlauf der folgenden Jahre bedachte man sich gegenseitig mit kleinen Präsenten der Wertschätzung. Im Oktober 1827 sandte Goethe Fanny das Gedicht «Wenn ich mir in stiller Seele». Sie bedankte sich überschwänglich: «Wenn es mir gelänge, die richtigen Töne zu Ihren Worten zu finden, würde ich mich vielleicht als eine weniger unwürdige Besitzerinn eines solchen Schatzes betrachten dürfen, in welchem Sie mir, mit der Aufgabe zugleich einen Lohn verliehen haben, den nicht einmal die glücklichste Lösung erwarten durfte.» Fanny schuf gleich zwei Vertonungen des Gedichtes. Das Autograph Goethes hielt sie ein Leben lang in Ehren. Ihr grosses Bilderalbum, das sie ein paar Jahre darauf für ausgewählte Grafiken anlegte, eröffnet mit der Goetheschen Handschrift.

Text: Cornelia Thierbach