«Chilbizite» für Orchester

Werner Wehrli  (1892-1944)


Programmhefttext für das 1. Abo-Konzert 2019/20

Symphonische Jahrmarktsmusik

Unter den zahlreichen Schweizer Komponisten, die sich mit der einheimischen Volksmusik schöpferisch auseinandergesetzt haben, ragt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert mit Werner Wehrli ein in Aarau geborener Musiker von aussergewöhnlicher Vielseitigkeit hervor. In erster Linie Komponist, war Wehrli auch Dichter und Schriftsteller, Chorleiter und Musiklehrer, Sammler und Herausgeber von rätoromanischen Volksliedern sowie Glockenexperte und Juror.

Nachdem er seine naturwissenschaftlichen Studien an der Universität München gegen den Kompositionsunterricht bei Friedrich Hegar und eine Chorleiterausbildung bei Carl Attenhofer am Zürcher Konservatorium eingetauscht hatte, setzte er seine Studien am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Main fort. Zu seinen bekanntesten Lehrern zählten Iwan Knorr (Komposition) und Bernhard Sekles (Musiktheorie); sein Studienkollege war Paul Hindemith. Die kompositorische Ausbildung rundete Wehrli, 1916 in die Schweiz zurückgekehrt, privat bei Hans Huber und Hermann Suter in Basel ab. Neben seiner hauptamtlichen Tätigkeit als Musiklehrer am Lehrerinnenseminar in Aarau leitete er den Cäcilienverein Aarau und den Frauenchor Brugg.

Wehrlis Kompositionen wurden an den Festkonzerten des Schweizerischen Tonkünstlervereins häufig aufgeführt und erfuhren eine hohe Beachtung. Nach seinem Tod im Jahr 1944 in Luzern wurde es jedoch immer stiller um den heute fast nur noch im Kanton Aargau bekannten, vom Werner Wehrli-Fonds (Lenzburg) geförderten Komponisten. Neben den poesievollen Mundartliedern «Im Bluescht» op. 2, dem Trio d-Moll für Violine, Horn und Klavier op. 11 Nr. 3, der zwischen Spätromantik, Impressionismus und Neuer Musik vermittelnden Suite op. 16 für Flöte und Klavier, den auch pädagogisch wertvollen Klavierminiaturen «Von einer Wanderung» op. 17 und der harmonisch kühnen Orgelkomposition «Introduction, Passacaglia und Fuge über den Namen Bach» op. 41 gehören das selten aufgeführte Chorwerk «Ein weltliches Requiem» op. 25 und die tragische Oper «Das Vermächtnis» op. 29 zu seinen Hauptwerken. 

Kaum bekannt sind die wenigen Kompositionen für Orchester, allen voran das knapp dreizehn Minuten dauernde Stück «Chilbizite» in Es-Dur aus dem Jahr 1917. Es wurde ein Jahr später unter dem Titel «Lustige Ouvertüre» in Basel aus der Taufe gehoben und unter der Leitung des Komponisten auch in Zürich, Winterthur und Bern gespielt. Ernest Ansermet, der Gründer und Leiter des Orchestre de la Suisse Romande, setzte sich als Dirigent in Genf, Vevey und Lausanne für weitere Aufführungen ein. 

Das dem Lehrer Hans Huber gewidmete Werk basiert zwar auf dem gleichnamigen Gedichtzyklus in Iberger Mundart von Meinrad Lienert, ist aber mit einem Vierzeiler als Motto überschrieben, der einer alten Kreuzpolka entstammt: «Hau d’r Chatz d’r Schwanz ab! Hau er e doch nicht ganz ab, / Lah ere no es Stümpli stah, / dass si cha a d’Chilbi gah.»

Von einer Trompetenfanfare und einem rasanten Lauf eingeleitet, setzt das von den Bläsern eingeführte Hauptthema kraftvoll ein, wobei die Ausdrucksbezeichnung sehr derb den volkstümlichen Grundzug der «Chilbizite» (Jahrmarktszeiten) verdeutlichen soll. Die geistige Verwandtschaft mit den stilisierten Volkstänzen aus Smetanas komischer Oper «Die verkaufte Braut» ist da kaum zu überhören. Nach der lyrischen Klangentfaltung durch das zweite Thema platzen die Blechbläser Mit plötzlichem Aufschwung auf eine stürmische Weise herein, die zusammen mit Bezeichnungen wie hervortretend, etwas drängend oder wild auf Wehrlis Beschäftigung mit Gustav Mahlers Symphonik zurückgehen. Passagen von kammermusikalischer Transparenz lockern den dichten Orchestersatz immer wieder auf, Fortissimo-Ausbrüche wechseln sich mit Piano-Partien von zarter Expressivität ab. Den volkstümlichen Charakter unterstreicht Wehrli schliesslich mit Akkordeon-Akkorden, zu denen die Klarinetten lustig quitschend ein Tanzmotiv wiederholen. 
 

Text: Walter Labhart