Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68 «Pastorale»

Ludwig van Beethoven  (1770-1827)


Text von Walter Labhart - 5. Abo-Konzert Saison 2016/17

Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68 «Pastorale»

SCHWEIZER KUCKUCK IN LACKIERTER LANDSCHAFT

Beethovens «Pastorale» aus der Sicht von Claude Debussy

Eine geballte Ladung neuer und neuartiger Musik erwartete das Wiener Publikum am 22. Dezember 1808 im Theater an der Wien. Das vom Komponisten selber geleitete Konzert war umso denkwürdiger, als es von 18.30 bis 22.30 Uhr dauerte und gleich drei Uraufführungen enthielt. Mit den ein Geschwisterpaar bildenden Sinfonien Nr. 5 c-Moll op. 67 und Nr. 6 F-Dur op. 68 sowie der Chorfantasie erklangen erstmals in formaler und inhaltlicher Hinsicht herausragende Novitäten.
Neu war in Beethovens 6. Sinfonie, die als «Sinfonia pastorale» angekündigt und gedruckt wurde, nebst der fünfsätzigen, scheinbar programmatischen Anlage auch die originelle Tonartenfolge in Rondoform. Die Haupttonart F-Dur (Sätze 1, 3 und 5) bildet den Refrain, die Nebentonarten B-Dur und f-Moll (Sätze 2 und 4) entsprechen den Strophen. Obschon die Nachahmung von Nachtigall, Wachtel und Kuckuck in den Schlusstakten des
2. Satzes und die im 3. Satz als «Gewitter. Sturm» dramatisch geschilderte Szene klangmalerische Elemente darstellen, wollte Beethoven ausdrücklich «mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei» wiedergeben.
Mit diesem Konzept wies er auf die «Promenaden» im Klavierzyklus «Bilder einer Ausstellung» (1874) von Modest Mussorgsky voraus. Dort setzte der Komponist jene Eindrücke und Empfindungen um, welche er in der Gedenkausstellung seines Malerfreundes Viktor Hartmann von den Bildern empfangen hatte.
Ebenfalls an einem 22. Dezember schlug die Stunde der impressionistischen Orchestermusik. 1894 hob der Westschweizer Dirigent und Komponist Gustave Doret in Paris ein Schlüsselwerk der Moderne aus der Taufe, das von Mallarmés gleichnamiger Dichtung inspirierte «Prélude à l‘après-midi d‘un faune» von Claude Debussy.
Während Beethoven zum Zeitpunkt seines legendären Uraufführungskonzertes ein arrivierter Musiker war, stand der französische Berufskollege mit seinem orchestralen Präludium noch am Anfang seiner Karriere. Als er an seinem stark von Mussorgsky beeinflusssten lyrischen Drama «Pelléas et Mélisande» arbeitete, war er auf journalistische Aufträge angewiesen. Im »Gil Blas» erschien am 16. Februar 1903 unter dem nüchternen Titel «M. F. Weingartner. – Reprise de ‹La Traviata› à l‘Opéra-Comique» seine kapriziöse und leicht maliziöse Besprechung von Felix Weingartners Aufführung der «Pastorale». Für die Interpretation verlor er nur wenige Worte, umso mehr ging er auf die Komposition ein:
«Als erstes dirigierte er die Pastoralsymphonie mit der Sorgfalt eines Gärtners, der peinlich genau jede Raupe abliest. Man hat den Eindruck einer wie mit dem Pinsel lackierten Landschaft, wo die sanft
geschwungenen Hügel aus Plüsch bestehen, der Meter zu zehn Francs, und die Bäume mit der Brennschere gekräuselt sind.»
Um die Künstlichkeit herauszustreichen, verglich Debussy die Sinfonie mit den Musikautomaten des französischen Ingenieurs Jacques de Vaucanson (1709-1782):
«Die Volkstümlichkeit der Pastoralsymphonie beruht auf einem ziemlich weitverbreiteten Missverständnis der Menschen gegenüber der Natur. Sehen Sie sich die Szene am Bach an: Es ist ein Bach, aus dem allem Anschein nach Kühe trinken (jedenfalls veranlassen mich die Fagottstimmen, das zu glauben), ganz zu schweigen von der Nachtigall im Wald und dem Schweizer Kuckuck, die beide besser in die Kunst von Jacques de Vaucanson passen als in eine Natur, die diesen Namen verdient. All das ist sinnlose Nachahmerei oder rein willkürliche Auslegung.»
Debussy forderte ein ganz anderes Naturverständnis und eine mehr spirituelle Beeinflussung des schöpferischen Musikers durch die Natur:
«Um wieviel tiefer drücken doch andere Partiturseiten des alten Meisters die Schönheit einer Landschaft aus, ganz einfach weil es keine direkte Nachbildung mehr gibt, sondern gefühlsmässige Übertragung des ‹Unsichtbaren› in der Natur. Fasst man das Geheimnis eines Waldes, indem man die Höhe seiner Bäume misst? Regt nicht vielmehr seine unergründliche Tiefe die gestaltende Phantasie an?»
Der befreundeten Arzttochter Therese Malfatti hatte Beethoven in einem Brief anvertraut: «Kein Mensch kann das Landleben so lieben wie ich – geben doch Wälder, Bäume, Felsen den Widerhall, den der Mensch wünscht.»
Zweifellos verkannte Debussy Beethovens intensive Beziehung zur Natur, indem er in seiner Konzertbesprechung fortfuhr:
«In dieser Symphonie ist Beethoven übrigens ein Kind seiner Zeit, das die Natur nur aus Büchern kannte. Das zeigt sich im ‹Gewitter›, einem Teil dieser Symphonie, wo der Schrecken der Menschen und Dinge sich mit dem Faltenwurf eines romantischen Mantels drapiert, während ein Theaterdonner rollt.»
Um sein Urteil nicht misszuverstehen, präzisierte es der Kritiker kurz:
«Es wäre abwegig zu glauben, ich wolle es an Respekt vor Beethoven fehlen lassen, nur: Ein Musiker seines Genies konnte sich gründlicher irren als andere... Kein Mensch ist gehalten, nur Meisterwerke zu schreiben, und wenn man die Pastorale als solches bezeichnet, so hat das Wort für die anderen Beethoven- Symphonien nicht mehr genug Kraft. Nichts anderes will ich sagen.»
Bis heute ist die Diskussion über die Frage, ob die «Pastorale» absolute Musik sei oder zur Programmmusik gehöre, nicht abgeschlossen. Sie ist am ehesten als ein mit dem romantischen Charakterstück verwandtes «charakteristisches Orchesterwerk» zu bezeichnen.
Debussys Beitrag zur Diskussion strich die lautmalerischen und programmatischen Züge umso mehr heraus, als der Autor von «La Mer» und der «Images» den Akzent auf die programmartigen Abschnitte eines Werkes setzte, das seinem Wesen völlig fremd war.