Drei Tanzepisoden aus dem Musical «On the Town»

Leonard Bernstein  (1918-1990)


Text von Sibylle Ehrismann – 4. Abo-Konzert Saison 2016/17

Leonard Bernstein: Three Dance Episodes aus «On The Town»

«NEW YORK, NEW YORK»

Leonard Bernstein war der Sohn jüdischer Emigranten aus Russland und somit ein «echter» Amerikaner. Geboren wurde er in Boston, er kam also aus
der Provinz. Doch New York wurde sein künstlerisches Zentrum. «Es ist diese Stadt, die mich immer wieder packt. Kein Wunder, dass ich stets neu über sie komponiere», erzählte Bernstein in einem Interview. Als musikalisches Universalgenie beherrschte er die verschiedensten Metiers: er war herausragend als Dirigent, Pianist, Komponist und Pädagoge. Bei all diesen Tätigkeiten glaubte er an die Einheit von «Ernstem» und «Leichtem», wie sie zu Mozarts Zeiten bestand.
Bernstein konnte alles komponieren. Er schrieb drei grosse Symphonien, Chorwerke, Opern, Ballettmusik, und natürlich seine berühmten Musicals, von denen die «West Side Story» am meisten Furore machte. Gerade im traditionsbewussten Europa wurde diese Vielseitigkeit anfangs skeptisch beurteilt. Bernsteins «ernste» Werke wurden als eklektizistisch gebrandmarkt, in der Szene für Neue Musik rümpfte man die Nase.
Doch der dandyhafte Amerikaner brachte auch in Europa frischen Wind. Ein wichtiger Einschnitt seiner Dirigentenkarriere – ab 1957 war er Chefdirigent
des renommierten New York Philhar- monic Orchestra – war die Produktion von Verdis «Falstaff» an der Wiener Staatsoper. Durch sein Wirken an diesem prestigeträchtigen Haus ebnete er den Weg für viele amerikanische Dirigenten in Europa. Zugleich weckte er mit seinem leidenschaftlichen Einsatz im Bereich sowohl der U- wie auch der E-Musik selbst bei europäischen Kulturtraditionalisten Sympathie für Crossover.
«On the Town» (1944) war Bernsteins erstes Musical. Eigentlich entstand es durch Zufall. Als sich der erst 26-jährige Komponist einer Operation unterziehen musste, wurde sein Freund Adolph Green gleichzeitig ins Krankenhaus eingeliefert. Es kam zu lebhaften Gesprächen und zu einem intensiven Gedankenaustausch. Kurz zuvor hatten Bernstein, Green
und Betty Comden beschlossen, das Ballett «Fancy Free» als Grundlage für ein Musical zu benutzen. Bernstein fing Feuer und war begeistert von der Idee,

selbst einmal ein Broadway-Musical zu komponieren. Im Krankenhaus hatte er die nötige Zeit, die musikalischen Grundideen waren schnell skizziert.
Das Musical erzählt von den Aben- teuern dreier Matrosen, die 24 Stunden Landurlaub haben. Jeder von ihnen hat seine eigene Vorstellung davon, wie er New York und eines seiner Mädchen erobern könnte. Gabey ist ein gefühl- voller Romantiker, Chip ist kühl und berechnend, und der letzte im Bunde will sich nur gut amüsieren. Die Premiere des Musicals fand am 28. Dezember 1944 in New York statt. Und kurz darauf stellte der clevere Komponist aus dem Musical «On the Town» eine Art Suite
mit dem Titel «Three Dance Episodes» zusammen, ähnlich den «Symphonic Dances» aus der späteren «West Side Story».
Die erste Episode «The Great Lover» gilt dem Tanz, es ist ein cooles, grooviges Schlendern, sehnsüchtig aufgeladen gespielt von einer Brass-Band. Im darauf-
folgenden Pax des Deux «Lonely Town» schrieb Bernstein eine seiner populärsten Melodien. Aaron Coplands «Americana»- Stil stand ihm hier Pate. Coplands melancholische, langsam sich wandelnde Harmonien wurden als «Sound of American music» wahrgenommen, der die Weiten der amerikanischen Prärie und den Pioniergeist darstellen sollte.
Im finalen «Times Square Ballet» wird
das berühmte Vergnügungsviertel New Yorks zelebriert, zum Welthit wurde
der Song «New York, New York, it’s a helluva town». Wegen dieses Hauptsongs ist «On the Town» bei uns auch unter dem Bühnentitel «New York, New York» bekannt. Es handelt sich dabei allerdings nicht um den Welthit «Theme from New York, New York», der aus Martin Scor- seses Film «New York, New York» von 1977 stammt. Die häufige Verwechslung beider Songs rührt nicht zuletzt daher, dass Frank Sinatra Ersteren in der Verfilmung «On the Town» sang und mit Letzterem 1980 einen seiner grössten Erfolge erzielte.