Johannes Brahms (1833-1897)
Programmheft für das 2. Abo-Konzert 2021/22
«Da fliegen die Melodien...»
Für Rune Bergman, den Chefdirigenten des argovia philharmonic, sind die vier Sinfonien von Brahms wie die einzelnen Sätze einer Mega-Sinfonie. So verstanden wäre dann die 2. Sinfonie in D-Dur das lieblichere Andante nach dem schweren Ringen um den Kopfsatz, also die 1. Sinfonie in c-Moll. Und tatsächlich wirkt die «Zweite» in ihrem gelösten Tonfall und der stellenweise liedhaften Melodik wie die Musik einer «befreiten Seele».
Das über 20 Jahre lange Ringen umseine 1. Sinfonie und deren erfolgreiche Uraufführung 1876 in Karlsruhe
hatten Brahms jene Sicherheit sinfonischen Gestaltens gegeben, dass er bei der «Zweiten» nicht mehr «den Riesen Beethoven hinter sich marschieren» hörte, wie er selber einmal sagte. Dennoch wurde er den Vergleich mit Beethoven noch immer nicht los. Brahms' 2. Sinfonie wurde sogleich mit Beethovens pastoraler Sinfonie Nr. 6 verglichen, was aber deutlich zu kurz greift. Das Werk atmet tatsächlich die sommerliche Frische des Wörthersees, an dem Brahms 1877 in Pörtschach erstmals seine Sommerferien verbrachte. Offensichtlich inspirierte ihn dieser Ort: «Da fliegen die Melodien, dass man sich hüten muss, keine zu treten», scherzte er. In der 2. Sinfonie widerspiegelt sich die Heiterkeit dieser sonnigen Seenlandschaft Kärntens, und alles ging plötzlich so leicht. Brahms stellte die Partitur in nur vier Monaten fertig.
Doch dieses heitere Antlitz trügt, Brahms selbst bezeichnete seine «Zweite» jedenfalls auch als «das neue liebliche Ungeheuer». Was sich unter der Oberfläche des mehr oder weniger opulenten Orchesterklangs in tieferen Strukturen abspielt, offenbart eine konsequente Weiterführung seiner Kompositionstechnik, wie sie bereits in der 1. Sinfonie zu bewundern ist.
Ruhig, ja fast unscheinbar hebt das Werk an: mit einem Sekund-Motiv, das zwischen dem Grundton d und dem Leitton cis pendelt und in tiefer Lage von den Celli und den Kontrabässen angestimmt wird. Aus diesem schlichten Halbtonmotiv entwickelt Brahms das ganze Riesengebilde des ersten Satzes. Es gibt nur wenige Stellen, an denen dieses Sekundmotiv nicht in irgendeiner Form präsent ist: nacheinander oder gleichzeitig, in der Umkehrung, rhythmisch vergrössert oder verkleinert – eine Technik, die später der Brahms-Bewunderer Arnold Schönberg «entwickelnde Variation» nannte.
Doch damit nicht genug: auch die Hauptthemen und weite Teile der übrigen drei Sätze sind von diesem
Sekund-Motiv geprägt. So wird eine thematische Verknüpfung erreicht, die alle Sätze als Glieder eines organisch gewachsenen Ganzen erscheinen lässt, obwohl jeder Satz einen völlig anderen Charakter hat.
Der Kopfsatz wird vom gesangvollen Hauptthema geprägt, mit dem die Sinfonie in den Hörnern anhebt, und vom schwelgerischen Seitenthema, das die Bratschen und Celli anstimmen und das dann von den Flöten und Oboen aufgegriffen wird. Der zweite Satz ist ein Adagio. Es ist das einzige Mal, dass Brahms diese Satzbezeichnung in einer Sinfonie verwendet. Es hat eine dreiteilige Liedform und ist Gesang pur. Die Celli stimmen diesen Gesang an, das Horn spinnt ihn fort, und alles, was so ausdrucksvoll und scheinbar natürlich strömt, ist motivisch streng verklammert.
Reizvoll und licht ist auch das Allegretto grazioso. Den tänzerischen Hauptgedanken variiert Brahms zweimal, wobei jedes Mal das Tempo in Presto umschlägt. Auch dieses tänzerische Motiv wird zum Schluss in eine warm strömende Kantilene umgedeutet. Das Finale setzt dann nochmals deutlich beim Dreitonmotiv des Kopfsatzes an. Das darauf basierende, weit ausholende Hauptthema wird von den Streichern leise und unisono eingeführt. Doch dann setzt Brahms einen grandiosen sinfonischen Prozess in Gang, bis zu den triumphal schmetternden Hörnern in der Coda. Diese Steigerung gelingt ihm durch zahllose motivische Abspaltungen und Umformungen, und alles ist mit allem verwandt – einfach grandios!
Die Uraufführung der Sinfonie unter Hans Richter im Musikvereinssaal zu Wien wurde zum grössten Triumph in der Laufbahn des Komponisten. Auch Brahms war begeistert: «Das Orchester hier hat mit eine Wollust geübt und gespielt und mich gelobt, wie es mir noch nicht passiert ist.»
Text: Sibylle Ehrismann
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Programmheft für November 2017
Beethovens Schatten überwunden
14 Jahre lang hatte Brahms mit seiner ersten Symphonie gerungen, sein Respekt vor Beethovens «Neunter» war gross. Unter den Romantikern gilt Brahms als konsequenter Fortführer klassischer Traditionen, deshalb wurde seine erste Symphonie auch gerne Beethovens «Zehnte» genannt. Brahms ist es gelungen, die viersätzige Grossform der Symphonie – also die «ideale» Form der Klassik – von innen her zu erneuern. Der Erfolg der Uraufführung seiner ersten Symphonie im Jahr 1876 war für den Komponisten so ermutigend, dass er gleich eine zweite Symphonie in Angriff nahm und diese in nur zwei Monaten während eines Sommeraufenthalts 1877 in Kärnten niederschrieb. Brahms zog sich gerne in die ländliche Idylle zurück, um konzentriert komponieren zu können. So hatte er 1874, als er am Zürcher Musikfest sein Triumphlied dirigierte, den Sommer in Rüschlikon bei Zürich und später drei Sommer in Thun verbracht. Im Vergleich zur tragisch-grüblerischen Stimmung der ersten Symphonie zeigt sich die zweite heiterer, gelöster, geradezu klassisch leuchtend und von liedhafter Melodik geprägt. Brahms hatte sich mit der «Ersten» die Sicherheit des symphonischen Gestaltens erarbeitet, so dass er nicht mehr «den Riesen Beethoven hinter sich marschieren» hörte. Die pastorale Gelöstheit der «Zweiten» darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Brahms hier das Prinzip des Wachsens symphonischer Verläufe aus einem allgegenwärtigen Motivkern konsequent weiterentwickelt. Nicht sein Einfall, seine Inspiration seien wichtig, sondern die kompositorische Arbeit damit. Arnold Schönberg hat im Rückblick Brahms‘ Technik der «entwickelnden Variation» bewundert. Das eröffnende Allegro entfaltet eine Überfülle an thematisch-melodischen Gedanken: die Hörner heben mit dem gesangvollen Hauptthema an, das schwelgerische Seitenthema intonieren zuerst die dunklen Bratschen und Celli, bis es von den Flöten und Oboen aufgegriffen wird. Das konstruktive Gerüst bildet ein unscheinbares Dreiton-Motiv, jenes d-cis-d, das die Bässe im ersten Takt anstimmen. Im Sinne der entwicklenden Variation erscheint dieses im Verlauf des Satzes immer wieder vergrössert, verkleinert und in rhythmischen Veränderungen. Hatte Beethoven vor allem in den Durchführungen die Dimensionen seiner Sonatenhauptsätze erweitert – also im Mittelteil des Satzes –, so durchdringt bei Brahms die Durchführungsarbeit den ganzen Satz, wenn auch die klassische Sonaten-Dreiteilung formal beibehalten wird. Bei Brahms hebt sich in dieser Symphonie der Durchführungsteil nur deshalb von Exposition und Reprise ab, weil er das thematische Material zu dramatischen Entwicklungen und Ballungen führt und damit den lyrischen Tonfall der Exposition durchbricht. Das Adagio der zweiten Symphonie ist der einzige Adagio-Mittelsatz, der sich in den Symphonien von Brahms findet. Es ist als dreiteilige Liedform angelegt. Die Celli stimmen einen ausdrucksvollen Gesang an, das Horn spinnt ihn fort. Die weitere Entwicklung benutzt Motivglieder aus diesem Gesang, alles, was so ausdrucksvoll und scheinbar natürlich strömt, ist motivisch streng verklammert. Im Allegretto grazioso weckt die Oboe die Assoziation an eine Schalmei, das ländlich-antike Hirteninstrument. Brahms wandelt hier einen tänzerischen Hauptgedanken zweimal variativ ab, wobei jedes Mal das Tempo in Presto umschlägt. Am Ende behauptet sich der Hauptgedanke, nun als warm strömende Kantilene umgedeutet. Auch das Finale ist in seiner vorwärtsdrängenden Kraft strukturell dicht gearbeitet. Das weit ausholende Hauptthema wird von den Streichern unisono im Piano vorgestellt, es ist aus dem Dreiton-Motiv des Kopfsatzes entwickelt. Darauf entfaltet sich ein symphonischer Prozess, der durch zahllose motivische Abspaltungen und Umformungen zu einer rigorosen Dichte führt; alles ist mit allem verwandt. Das intensiv sich aussingende Seitenthema löst eine stürmische Steigerungswelle aus, es wird in der Coda von den schmetternden Hörnern ins triumphal Auftrumpfende umgeformt. Die Uraufführung der Symphonie am 30. Dezember 1877 unter Hans Richter im Musikvereinssaal Wien wurde zu einem der grössten Triumphe in der Laufbahn des Komponisten. Brahms war begeistert: «Das Orchester hier hat mit einer Wollust geübt und gespielt und mich gelobt, wie es mir noch nicht passiert ist.»
Text: Sibylle Ehrismann