«Symphonic Variations»

Hubert Parry  (1848-1918)


Wiederentdeckung eines Meisters

Der Name von Sir Hubert Parry, dessen Todestag sich am 7. Oktober zum hundertsten Mal jährt, war lange Zeit vor allem durch zwei kürzere Chorhymnen bekannt: «I was glad», seit 1902 bei sämtlichen Krönungen britischer Monarchen aufgeführt, und «Jerusalem» (1916), ein Stück, das fast zu einem Volkslied geworden ist und jedes Jahr beim Abschluss der BBC Proms vom gesamten Publikum in der Royal Albert Hall mitgesungen wird. (Auch bei der Last Night des argovia philharmonic wird es nicht fehlen.) Die Bedeutung Parrys, der u.a. fünf Symphonien und zahlreiche gross angelegte Chorwerke komponiert hat, geht aber weit über diese (zweifellos wunderschönen) Gelegenheitswerke hinaus. Davon kann man sich heute leicht überzeugen, da seit 1994 eine CD-Gesamtausgabe der symphonischen Werke Parrys vorliegt, mit dem London Philharmonic Orchestra unter der Leitung des Schweizer Dirigenten Matthias Bamert, der letzte Saison Gast beim argovia philharmonic war.

Parry, der einen wichtigen Einfluss auf seinen jüngeren Zeitgenossen Edward Elgar ausübte, war einer der ersten Komponisten, die einen ausgepräg- ten englischen Nationalstil in der Musik entwickelten. Er hatte seinerseits viel aus deutschen Vorbildern gelernt, und bekannte sich sowohl zu Brahms, auf dessen Tod er eine orchestrale Elegie schrieb, als auch zu Wagner, dessen «Ring» und «Parsifal» er in Bayreuth erlebte. Über zwanzig Jahre lang leitete Parry das Royal College of Music in London, wo er Ralph Vaughan Williams und Gustav Holst zu seinen Schülern zählte.

Die «Symphonic Variations», entstanden in Brahms' Todesjahr 1897, knüpfen bewusst an dessen Haydn-Variationen und die Passacaglia der 4. Symphonie an. Auch Dvořáks «Symphonische Variationen» op. 78 standen Pate. Trotzdem ist Parrys Stück nichts weniger als epigonenhaft: das sechstaktige Thema besitzt einen durchaus individuellen Charakter, die Instrumentation ist höchst originell, und das ganze Stück, frisch und beschwingt, trägt das sichere Zeichen der Meisterhand.

Die Variationen, 27 an der Zahl, folgen ohne jegliche Unterbrechung aufein- ander; sie sind in vier Abschnitte eingeteilt, die dem Umriss einer viersätzigen Symphonie entsprechen. Im ersten dieser Abschnitte (selber durch einen Moll-Dur-Wechsel in zwei Sektionen aufgegliedert) wird die Melodie von bewegten Figurationen umgeben, wonach eine hymnenartige Variation, in der die Posaunen und die Tuba zum ersten Mal eintreten, einen kurzen Moment der Reflektion ver- schafft. Darauf folgt der Scherzo-Abschnitt in C-Dur, in welchem das Thema vor allem rhythmisch bearbeitet wird. Eine ziemlich geheimnisvolle Variation, wo das Thema, von den langsamen Trillern der Klarinetten und Fagotte begleitet, fast ganz in den leisen Streicherpizzicati verschwindet, bildet die Brücke zum langsamen Satz. In diesem Largo appassionato in a-Moll, wo der Viervierteltakt zum Dreivierteltakt wechselt, ist das ganze Orchester zum ersten Mal forte zu hören. Der Schlusssatz, in einem strahlenden E-Dur, wirkt zuerst als eine Art Reprise des Anfangs, doch es kommen noch weitere, ganz neuartige Variationen, die in eine majestätische Coda münden.

Edward Elgar gebrauchte, ganz mit Recht, einen seiner Lieblingsausdrücke (noble, edel) in seiner Würdigung des Stückes, das auch international grossen Erfolg hatte. Bereits im Jahre 1898 erklangen die «Symphonic Variations» in Chicago unter der Leitung von Theodore Thomas, und vierzehn Jahre später schrieb der berühmte Wiener Musikwissenschaftler Guido Adler eine begeisterte Rezension, nachdem er sich das Werk an einem internationalen Kongress angehört hatte. Im Jahre 2010 nannte der britische Rezensent Simon Heffer Parrys Werk «ein Stück für die einsame Insel», und im folgenden Jahr hat sich kein Geringerer als Prinz Charles in einem schönen BBC-Dokumentarfilm («The Prince and the Composer», 2011) für den Komponisten eingesetzt.

Text: Peter Laki, September 2018