Sinfonie Nr. 2 G-Dur «A London Symphony»

Ralph Vaughan Williams  (1872-1958)


Text von Anna Spiess, geschrieben für das Programmheft des 5. Abo-Konzerts "Best of Bostock", Saison 2018/19.

Das klingende London

Ralph Vaughan Williams (1872 – 1958) setzte sich zeitlebens stark mit seiner musikalischen Identität auseinander und gilt als Schlüsselfigur in der Wiederbelebung britischer Musik. Impulse für sein Schaffen kamen aus der britischen Musik der Renaissance und der Volksmusik, deren Melodien er durch Feldforschung aufstöberte, sammelte und in seinen Werken verarbeitete. Zwar war das Verwenden von Volksmelodien für ihn durchaus legitim, die Entwicklung eines eigenen Komposi-tionsstils stand für Vaughan Williams, dessen Musik durch den Einsatz modaler Skalen geprägt ist, jedoch im Vordergrund. Obgleich der Komponist für musikalische Entwicklungen offen war – seine Harmonik ist spätromantisch erweitert, gelegentlich bitonal – lehnte er die Zwölftonmusik sowie dem Ohr nicht so zugängliche Dissonanzen ab, da er mit seiner Musik ein breites Publikum ansprechen wollte.

Vaughan Williams ist heute insbesondere durch seine neun Symphonien bekannt, die er erst ab der vierten mit einer Nummer versah. Seine zweite Symphonie in G-Dur wurde 1914 uraufgeführt, ging in der Kriegszeit jedoch verloren, weshalb sie rekonstruiert werden musste und vom Komponisten später zudem verändert wurde.

Der Titel «A London Symphony» löste einige Kontroversen aus, da Vaughan Williams ein musikalisches Programm verneinte, obschon deutlich lautmalerische Assoziationen hervorgerufen werden. Der Komponist wollte seine Symphonie als «Symphony by a Londoner» und damit als absolute, nicht als programmatische Musik, verstanden wissen und unterstrich damit die «ernsthaften Absichten», die er mit seinem Werk verfolgte. Er hat mit seiner düsteren Symphonie ein Bild Londons zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemalt, das deutlich durch die Entwicklungen der Industrialisierung gezeichnet ist.

Die «London Symphony» ist mit ihren Klangbezügen ein eindrückliches Werk. Nach dem zaghaften Erwachen der Stadt lässt es den Zuhörer in die Klangwelten der Metropole mit ihrem turbulenten Treiben eintauchen. Das energische Allegro risoluto wird dabei von Klarinette und Harfe mit dem be- rühmten Glockenschlag der Westminster Abbey sprichwörtlich eingeläutet.

Der langsame zweite Satz trägt den inoffiziellen Titel «Bloomsbury Square on a November afternoon». Über einem ruhigen Klangteppich schwebt das Englischhorn mit einer leidenschaftlichen Melodie, die von den Streichern aufgegriffen und fortgesetzt wird. Darauf folgt ein einsamer Hornruf, der durch zart pulsierende Streicherklänge getragen wird. Das Variationsset komplettiert die durch die Solobratsche eingeführte, leidenschaftliche Melodie der Lavendelverkäufer, die schliesslich in der Coda in eine nostal- gische Erinnerung daran mündet.

Der dritte Satz, ein Nocturne, darf gemäss dem Komponisten als die in Töne gesetzte, nächtliche Stimmung am Themseufer verstanden werden. Da sind auf der einen Seite die fernen Klänge von «The Strand», einer mit grossen Hotels umrahmten Strasse, und auf der anderen Seite jene von «New Cut» mit seinen überfüllten Strassen und flirrenden Lichtern am anderen Themseufer, welche die Klangku- lisse prägen und den Geist Londons deutlich spürbar machen.

Der letzte Satz beginnt mit einem Trauermarsch, der von einem aufgeregt energisch gesteigerten Marsch abgelöst wird. Zum Finale liess sich der Komponist kaum Andeutungen entlocken. Der Epilog, mit dem die Symphonie still und verhalten ausklingt, vereint mit dem Glockenspiel Anfang und Ende. Für ein besseres Verständnis des Verstummens am Ende der Symphonie empfahl Vaughan Williams die Lektüre von H. G. Wells Roman «Tono-Bungay». Dieser schildert eine Fahrt auf der Themse: «Nach und nach verlöschten die Lichter. England und das Königreich, Britannien und das Empire, der alte Stolz und die alte Andacht flossen vorüber, glitten dahin, versanken hinter dem Horizont, verschwanden – verschwanden. Der Fluss verschwand, London verschwand, England verschwand ...».