Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 «Aus der Neuen Welt»

Antonín Dvořák  (1841-1904)


Text von Sibylle Ehrismann – 4. Abo-Konzert Saison 2016/17

Antonín Dvorák: Symphonie Nr. 9 e-Moll op. 95 «Aus der Neuen Welt»

BÖHMISCHER GRUSS AUS AMERIKA

Antonín Dvorák war ein Böhme durch und durch. Als ihn 1892 der Ruf nach Amerika erreichte, hatte eben seine 8. Symphonie in England Sensationserfolge gefeiert. Zudem war er 1891 als Kompositionslehrer ans Prager Konservatorium berufen worden. Dvorák war der Inbegriff der böhmischen Nationalmusik, vermochte er doch wie kein Zweiter, slawische Folklore mit absoluter Musik zu verbinden.

Er zögerte deshalb lange, als ihm Jeanette M. Thurber, die umtriebige Gründerin des ersten amerikanischen Konservatoriums in New York, das Angebot machte, 1892 die Direktion des National Conservatory
in New York zu übernehmen. Thurber erhoffte sich vom «böhmischen Brahms», wie Dvorák gerne bezeichnet wird, dass er in New York eine Art «amerikanische Schule», einen spezifisch amerikanischen Stil begründe.
Dvorák ging schliesslich darauf ein und reiste nach New York. «Die Amerikaner erwarten grosse Dinge von mir», schrieb er einem Freund, «vor allem soll ich ihnen den Weg [...] in das Reich der neuen, selbständigen Kunst weisen, kurz, eine nationale Musik schaffen!» Sein erstes
in den USA fertiggestelltes Werk heisst denn auch «Aus der Neuen Welt», es handelt sich um seine letzte Symphonie. Natürlich feierte die amerikanische Presse dieses Werk nach der Uraufführung am 16. Dezember 1893 in der Carnegie Hall New York als typisch «amerikanische» Symphonie. Doch war sie wirklich so amerikanisch?
 
Tatsächlich hat sich Dvorák um die amerikanische Volksmusik bemüht. Dazu studierte er Musik der Indianer und auch Negro-Spirituals, also Musik der schwarzen Bevölkerung. Auch hat Dvorák nicht verschwiegen, während der Arbeit an der Symphonie Anregungen durch
die Lektüre von Henry Wadsworth Longfellows Indianer-Epos «Song of Hiawatha» bekommen zu haben. Ursprünglich wollte er aus diesem Indianer-Stoff eine Oper machen, doch daraus wurde nichts.
Natürlich war Dvorák mittlerweile zum Meister der Symphonik gereift, seine «Neunte» ist formal konventionell gebaut und sie besticht vor allem durch die dichte satztechnische Verflechtung der einzelnen Sätze untereinander. Dennoch wurde
vor allem darüber spekuliert, inwieweit er 16
Melodien indianischer Musik zitiert hat. Dvorák schrieb dazu: «Ich habe keine dieser Melodien direkt verwendet. Ich habe einfach eigene Melodien erfunden, in die ich die Eigenheiten der Indianermusik eingearbeitet habe. Diese Themen habe ich dann mit allen Mitteln moderner Rhythmik, Harmonik. Kontrapunkt und Orchesterfarben verarbeitet.»
Als Beweis für typisch indianische
Idiome wird bis heute die Pentatonik einzelner Themen angeführt, vor allem die Englischhorn-Melodie des Largos. Die Pentatonik besteht aus einer Tonleiter mit fünf ganzen Tönen, es fehlen also
die Leittöne. Dieser Mangel an innerer Spannung verleiht den pentatonischen Skalen einen statischen, schwebenden Charakter. Sie tritt jedoch nicht nur in der
Indianermusik auf, auch die slawische Volksmusik ist hauptsächlich pentatonisch.
Andererseits wurden die Synkopen
des ersten und dritten Hauptthemas im Kopfsatz mit den «Scotch Snaps» der Negro-Spirituals in Verbindung gebracht. Synkopen charakterisieren aber auch die böhmische Folklore. Man ging sogar so weit, das Hauptthema des Scherzos als stilisierten «Indianer-Tanz» zu deuten.
Das bereits erwähnte Indianer-Epos hat wohl am deutlichsten im langsamen
2. Satz seinen Niederschlag gefunden.
Er ist mit Legenda (Erzählung) über-
titelt. Musikalisch offenbart sich dies im andächtig ruhigen Klang eines Bläserchors, in der Verwendung eines Englischhorns, und im Tritonusverhältnis der ersten beiden Akkorde, was wie eine Entrückung wirkt. Dazu kommen Seufzermotive und Vorhaltsbildungen.
Im Scherzo gelingt Dvorák dank einer Musik voller Derbheit und Witz ein faszinierender Kontrast zu dieser melancholi- schen Legende. Berühmt ist der überra- schend dominante Einsatz des Triangels, der auch das frische Walzer-Trio rhythmisch begleitet. Den Abschluss der Symphonie bildet ein Allegro con fuoco, das dieser Bezeichnung alle Ehre macht. Erregend ist schon die kurze, von den
Streichern und Bläsern vorgetragene Einleitung, der das kraftvoll pathetische Hauptthema mit schmetternden Trompeten und Hörnern folgt. Im Seitenthema singt die Klarinette eine elegische Kantilene, böhmischer könnte sie nicht sein.
Irgendwie klingt aus dieser Symphonie auch Heimweh des Komponisten durch. Amerika war nicht Dvoráks Land, er kehrte bereits 1895 an das Prager Konservatorium zurück, dessen Direktor er 1901 wurde. Und er komponierte fortan keine Symphonien mehr, sondern «Symphonische Dichtungen» über Balladen aus seiner tschechischen Heimat.